Politisches Kabarett nach 22 Uhr 30 - das gab es mal in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und auch noch in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, in Berlin, München, Hamburg. In diesen Zeiten war an Kabarett in Dresden überhaupt nicht zu denken. Heute jedoch, im Oktober 2012, und eben auch nach 22 Uhr 30, ist in Dresden politisches Kabarett angesagt, und dieser Ansage wird in anspruchsvoller Weise Rechnung getragen. Bereits seit drei Jahren sind in einem ehemaligen DDR-Neubau am Sternplatz, inmitten eines nüchternen Wohngebietes in einem Gebäude mit dem zumindest äußerlichen Charme eines Mehrzweckbaus der 50-er Jahre
(unten - Gaststätte, oben - Kultursaal, nebenan - Konsum), bereits seit drei Jahren die Spätzünder am kabarettistischen Werk: das sind Michael Feindler, Erik Lehmann und Philipp Schaller, musikalisch unterstützt von der Band Les Bummms Boys. Zugegeben, der Dresdner weiß, dass am Sternplatz seit fast fünf Jahrzehnten die Herkuleskeule, dass bis heute sehr erfolgreiche Dresdner Kabarett zu Hause ist. Und Kabarettfreunde in ganz Deutschland kennen und schätzen die Herkuleskeule als eines der besten Ensemble-Kabaretts. Aber kennen sie auch den bei der Herkuleskeule angesiedelten Spätzünder? Unter www.spaetzuender-keule.de ist zu lesen, dass es sich dabei um "Die satirische Quartalsabrechnung - aktuell, scharf, selten komisch" handelt, und zwar in der Herkuleskeule Dresden.
Und der Laden ist auch heute wieder voll, beim XI. Spätzünder am 5. Oktober 2012, und das um 22 Uhr 30, und das in Dresden. Ja, und es sind nicht nur junge Leute, die den Kabarettsaal füllen, nein, das Publikum ist gemischt, alle Altersklassen sind vertreten, vom spätpubertären Erstsemester über die singelnde Büro-Angestellte bis zum Rentner. Und alle haben ihre helle Freude an dem Geschehen auf der Bühne. Viele Besucher sind Stammgäste. Deshalb werden auch die spezifischen Vorlieben der einzelnen Künstler stark bejubelt, sei es die echte Schüchternheit von Michael Feindler, der zunehmend stärker ausgeprägte Sarkasmus von Philipp Schaller oder die Wandlungsfähigkeit von Erik Lehmann, dessen kabarettistische Figuren mit ihrer offenbarenden Dummheit verlachens-, mitunter aber auch liebenswert sind.
Begleitet werden die drei Protagonisten von der Band Les Bummms Boys, einer Rock-Band mit teilweise ulkigen, manchmal auch aufrüttelnden Texten. Diese Late-Night-Show ist so turbulent, Fähnchen-schwenk-freundlich, so voller Spontaneität aber auch exakter satirischer Textarbeit, so erfrischend und pfiffig, angriffslustig, bissig, schwarz-humorig, aber nie die Inhalte aus dem Auge verlierend, das es eigentlich schade ist um die viele Vorbereitungsarbeit für nur jeweils zwei Aufführungen einer "Schau am sehr späten Abend", und nur in Dresden.
Auch der XI. Spätzünder kam wieder als bunte Mischung von Liedern, Geschichten, Kabarett-Soli sowie satirischen Spielereien über die Bühne. Ätzend die Erläuterungen von Philipp Schaller über den Humor und die Ehrlichkeit von Frau Merkel, die immer wieder in der Aussage gipfeln: "Ehrlich und sympathisch, das ist Frau Merkel - klingt komisch, ist aber so!" oder seine Bewunderung für den neuen Bundespräsidenten, der für ihn ein "mahneichender Prozessionsspinner aus Rostock" ist.
Bravourös in Idee und Ausführung Erik Lehmann in der Rolle eines mitfühlenden aber auch mitteilsamen Arbeitsamtangestellten, der dem plötzlichen Tod seiner Kollegin, der Kollegin Dingens in Neuss, durchaus Positives abgewinnen kann ("Jetzt im Gefängnis hat der Arbeitslose endlich einen Arbeitsplatz. Jetzt kann er arbeiten.") Entlarvend auch sein schönrechnender Pressesprecher aus dem sächsischen Kultusministerium.
Michael Feindler bedankt sich in einem seiner Lieder bei den Menschen seiner tagtäglichen Umgebung für die neuen Text-Ideen und lässt sich auch an diesem Abend, wie jedes Mal, seinen Zugabe-Vierzeiler nicht verwehren:
"Ob Steinbrück oder Angela entscheidet sich im nächsten Jahr. Der Spiegel weist schon darauf hin "Wer wird nächste Kanzlerin!"
Ein Höhepunkt des späten Abends bilden die mit verteilten Rollen gelesenen Auszüge aus dem Drehbuch "Das Leben der Bettina Wulff". Respektlos und geradezu schwarz-humorig die Zitate von Frau Goebbels aus dem Film "Der Untergang", mit denen die Drehbuch-Lesung endet.
Ja, so wollen sie sein, die Spätzünder aus Dresden: provokant-erhellend, krachend-auffallend, scharfzüngig-treffend und mit einem Schuss Improvisation bei gleichzeitigem Spaß aller Beteiligten - so eben, wie Satire zu sein hat.
Und deshalb möchte ich eine Lanze brechen für "Spätzünder-Abende" auch in anderen Städten, zumindest Mitteldeutschlands. Warum keine Spätzünder in Leipzig und Jena? Was spricht gegen Chemnitz oder Halle? Die dortige Kabarettmisere? Sind es die fehlenden Auftrittsmöglichkeiten? Leipzig beispielsweise hat mit sechs Kabarettspielstätten mehr als zu viel eigene Kabaretts, und dennoch, so etwas wie die "Spätzünder-Keule" fehlt in dieser selbsternannten Kabarett-Hauptstadt.
Also, schreiben wir die Spätzünder über die Feuilletons in die Metropolen Mitteldeutschlands. Auch hier gibt es - noch - ein Publikum für politische Satire nach 22 Uhr 30. Es muss ja nicht gleich Berlin sein. Aber warum die "Late-Night-Show" nicht auch irgendwo im Friedrichshain oder in Neukölln? Die besten Berliner Künstler kamen schon immer aus der vorgeblichen Provinz.
Im Januar diesen Jahren wurden die Spätzünder in Cottbus gefeiert. Dort werden sie bei den Studenten-Kabarett-Tagen 2013 erneut gastieren. Was Cottbus kann, sollte in Leipzig ebenso möglich sein. Der Rezensent würde sich für die jungen und engagierten Künstler, aber auch für das Leipziger Publikum ungemein freuen.
Jürgen Klammer für radio-mensch 6.10.2012