Wer die mittelalterliche Nibelungensage nacherzählt erwartet, ist falsch in der Aufführung des Leipziger Balletts. Im Zentrum steht die Lebensgeschichte Kriemhilds (getanzt von Isis Calil de Albuquerque), ihre Entwicklung vom unbefangenen Kind bis zur enttäuschten Frau, die sich rächt für die angetanen Verletzungen und Intrigen innerhalb ihrer gesellschaftlichen Position, die den Mord an ihrem Mann Siegfried (getanzt von Tyler Galster) nicht hinnehmen kann und will. Den Rahmen der Geschichte bilden die königlichen Familien von Burgund und der Hunnen und deren Gefolge. Die Tänzerinnen und Tänzer erzählen einige Geschichten aus dem Nibelungenlied; die Begegnung Kriemhilds und Brunhilds (getanzt von Amelia Walter), die
sich richtig gut streiten, wer zuerst in die Dompforte zu Worms eintreten darf. Der Onkel der Prinzessin Kriemhild, Hagen von Tronje (getanzt von Tomas Ottych) lässt sich bereitwillig benutzen für den Mord an Siegfried. Urania Lobo Garcia tanzt beeindruckend das zweite ICH Kriemhilds, wie sich die Liebe zu Siegfried nach dessen Ermordung in Trauer und Wut verwandelt. Kriemhild heiratet aus Berechnung Etzel aus dem Hunnenland (getanzt von Kiyonobu Negishi), gründet eine Familie. Hagen tötet auch das Kind, hinterlässt große Verzweiflung und der große Vernichtungsangriff beginnt. Es ist ratsam, sich vor dem Besuch des Ballettabends die Nibelungensage durchzulesen oder zu googeln, sonst verliert man leicht den Überblick. Fritz Langs Stummfilm aus dem Jahre 1924 bestimmt das Bühnenbild, Teile des Films werden großflächig auf Leinwände projiziert, die Wände können bewegt werden und damit das Szenenbild verändern. Schwierig war es, sich gleichzeitig die Filmsequenzen anzusehen und dem Tanzgeschehen auf der Bühne zu folgen. Überraschung des Abends war für mich die Musik (Thomas Leboeg und Andi Haberle), eigens komponiert für die Ballettinszenierung des Leipziger Opernhauses. Beide Musiker sitzen in Frack und Turnschuhen sichtbar im hochgefahrenen Orchestergraben, fast wie in einer Burg umgeben von Mauerstücken.
Es kamen Schlagzeug, Klavier, Xylophon, Synthesizer, alles ein wenig elektronisch zum Einsatz und man hört Geräusche wie bei einem Hörspiel. Der zeitgemäße Rhythmus und die verträumten Klänge und der moderne Tanzstil Mario Schröders passen gut zusammen. Kurz vor dem Ende des Stücks ein großes Feuer auf der Leinwand, die Burgunder und die Hunnen (getanzt vom Ensemble des Leipziger Balletts) erschlagen sich gegenseitig, alles kommt in den Flammen um.
Warum das Volk vor dem großen Inferno in Alltagskleidung auf die Bühne kommt, ist unklar. Der Zuschauer hätte auch so verstanden, dass Liebe, Hass, Völkermord und kriminelle Energie aktuelle Themen sind. Das Stück ist aus, Volker der Spielmann alias Fritz Lang (getanzt von Oliver Preiß) hat die Geschichte erzählt, der Film ist abgelaufen und er macht das Licht an. Auf die Bühne werden die Steine von der Burg der Musiker geworfen, es bleibt ein Trümmerhaufen, eine Ruine mit deren Bedeutung wir uns im Sinne des Nibelungenliedes auseinandersetzen können.
Angela Trautmann für radio-mensch