Großer Jubel beim Premierenpublikum, etwas verhaltenere Begeisterung bei mir. Bin ich noch beglückt in die Pause und danach wieder in den Saal gegangen, kamen bei mir im 2. Teil immer öfter Unmutsmomente auf. Doch der Reihe nach: Zu Beginn, der Eiserne Vorhang ist heruntergelassen, wird es abrupt finster - nicht einmal die Notbeleuchtung ist an - und man hört eine Menschheits-philosophische Betrachtung. Ich glaube, sie stammt von Ingeborg Bachmann. Als die Bühne freigegeben wird, sieht man in einer Kieslandschaft ein Podest mit einem Denkmal, das an Lenin erinnert und wahrscheinlich gedeutet werden möchte (Bühne Rufus Didwiszus). Da es für mich
keinen wirklichen Bezug zum Geschehen hatte, habe ich mich dieser Mühe allerdings gar nicht erst unterzogen. Zunächst bewegt sich das Ensemble ekstatisch zu elektronischen Beats als gleichgeschaltete Masse.
Merke: Alle sind genormt. Nun ja. Doch dann geht es ins Stück und in die Konflikte im Hause Bessemjonow - und plötzlich war ich gefesselt von der Kraft, mit der die Schauspieler die inneren Konflikte ihrer Figuren mit den unterschiedlichsten Mittel nach außen zu bringen vermochten. Alles war heutig, ohne künstlich zu aktualisieren.
Jette Steckel hat sich hier für mich als Regisseurin gezeigt, die ihre Schauspieler erblühen lässt, statt sie zu vergewaltigen. Lebensträume und -realitäten prallten aufeinander, regten mich als Zuschauer an, über meine eigenen Positionen nachzudenken, ihnen nachzufühlen. Im zweiten Teil vertraut die Regisseurin sich und der Kraft ihrer Ensembles anscheinend nicht mehr - und glitscht zunehmend ins Plakative ab. Der Gipfel ist ein Monolog von Nil (Felix Goeser), der zunächst mit ehrlichem Engagement zu überzeugen weiß - bis es zu peinlichem Agitprop wird. Er fordert die Zuschauer auf, sich zu erheben und zu erklären, "dass sie das alles nicht länger hinnehmen wollen". Wie die meisten Premierengäste kam ich dem nicht nach. Eine ehrenwerte Absicht verkehrt sich ins Gegenteil und wird zum Jux. So etwas hat die Inszenierung nicht nötig, genauso wenig wie die "an sich" lustigen Einspielfilmchen, in denen die Schauspieler Persönliches verraten. Wären die als Ergänzung in der Pause in den Foyers abgespielt worden, hätte ich meinen Spaß dran gehabt. So haben sie für mich den Abend nur überflüssig verlängert. Ich begreife ja, dass eine große Verführungskraft darin liegt, mit allen technischen Mitteln hantieren zu dürfen. Aber, man sollte es nicht glauben, Theater kann auch ohne Video existieren. Das haben die exzellenten Schauspieler gerade an diesem Abend hinreichend bewiesen. Da ist Helmut Mooshammer als das Familienoberhaupt Bessemjonow. Er versteht die Welt nicht mehr, die ihn zunehmend zum alten Eisen macht. Vor allem begreift er seine Kinder nicht, deren Bestes er doch nur will. Es ist berührend zu sehen, wie hier einer darum ringt, seine Lebensmuster aufrecht erhalten zu können. Schade nur, dass seine eigentlich tragischen kläglichen Rufe gegen Ende des Stückes, wo ihm die Stimme zu versagen droht, an die Grenze zur Lächerlichkeit gehen - und es gab auch vereinzelte Lacher.
Eindrucksvoll Natali Seelig als Tatjana, die mit starken körperlichen Mitteln eine Figur zwischen Verbitterung und Sehnsucht nach Liebe zeigt. Wie unaufdringlich und gerade dadurch berührend sie ein bisschen Haut freilegt und um Wärme bettelt. So könnte ich bei jedem Darsteller überzeugende Momente finden. Zum Ensemble gehören - neben den schon genannten - Barbara Schnitzler, Ole Lagerpusch, Markus Graf, Olivia Gräser, Katrin Wichmann, Thomas Schumacher und der Musiker Mark Badur.
Mein Favorit ist aber Peter Jordan als Teterew, dem es gelingt, diesen Säufer facettenreich in die Dimension eines Shakespeareschen Narren zu heben. Es mag auch ein Generationsproblem sein, dass ich nicht in allen Punkten den Weg der Regisseurin mitgehen konnte, aber ich habe einen spannenden Theaterabend erlebt, der mit ehrlichen Botschaften ohne arrogante Kunstgewerblichkeit sein Publikum erreichen will. Es gibt viele schauspielerische Details, die ich eigentlich genauer betrachten und genießen möchte. Deswegen werde ich vielleicht auch noch einmal reingehen. Zumindest bis zur Pause.
Rainer Gerlach für radio-mensch