Das Hans-Otto-Theater Potsdam hat mit "Eine Familie" von Tracy Letts, Deutsch von Anna Opel, ein Stück auf seine Bühne geholt, das dem Ensemble wunderbares Material zur emotional starken schauspielerischen Entfaltung bietet. Beverly Weston, einst erfolgreicher Dichter, heute verbitterter Alkoholiker, will am Leben mit seiner Frau Violet, die krebskrank und schwer tablettensüchtig ist, etwas ändern. Er engagiert ein indianisches Hausmädchen und verschwindet. Später erfährt man, dass er Selbstmord begangen hat. Diese Ereignisse führen die verzweigte Familie, drei Töchter mit Anhang, zusammen und lassen einen Konflikt nach dem anderen aufbrechen. Lange unterdrückter Hass tritt zutage und Lebenslügen werden entlarvt. Das klingt nach
Tennessee Williams, könnte aber auch eine Seifenoper oder eine böse Gesellschaftssatire sein. Und von all dem hat das Stück etwas.
Die Regisseurin Barbara Bürk lässt die komischen Momente der an sich tragischen Geschichte auskosten, das löst im Saal immer wieder große Heiterkeit aus, aber dann bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Dieses Wechselbad der Gefühle macht den mit 2 3/4 Stunden ziemlich langen Theaterabend mit gutem Timing zu einer durchweg spannenden Unterhaltung. Das wurde in der 2. Vorstellung, die ich gesehen habe, zurecht mit lang anhaltendem Beifall belohnt. Tracy Letts, der Autor, ist selbst Schauspieler und weiß, was für Vorlagen man als Darsteller braucht, um vielschichtige Figuren spielen zu können. Und das Schöne ist: Er hat wirklich ein Ensemble-Stück geschrieben, nicht ein paar Hauptrollen mit Beiwerk. Dem zeigt sich das Potsdamer Ensemble mit einer geschlossenen Leistung bestens gewachsen. Aber, auch wenn sie das nicht provoziert, sticht für mich Tina Engel besonders hervor. Es ist ein Genuss zu sehen, mit welcher Leichtigkeit sie Gefühlsumschwünge spielt, wie sie trockene Pointen setzt, um dann wieder große Emotionen zu zeigen. Und wenn sie sich am Schluss klein macht wie ein hilfloses Kind, geht das unter die Haut.
Ich möchte auch Peter Pagel hervorheben, der den Abend spannend mit einem zynischen Fast-Monolog des späteren Selbstmörders eröffnet und dann völlig gegensätzlich auch Charlie, den etwas verhuschten, harmoniesüchtigen Schwager Violets spielt, der das Publikum mitreißt, wenn er sich schließlich zu einem Auftrumpfen hinreißen lässt. Melanie Straub als Barbara entfacht ein wahres Emotionsfeuerwerk. Das ist sehr beeindruckend, könnte aber für meinen Geschmack manchmal nicht ganz so kreischig sein. Viel Vergnügen hatte ich an Meike Finck als Karen, die ihre Figur mit unaufdringlichem, liebenswerten Humor gezeichnet hat. Während die Doppelrolle bei Peter Pagel problemlos funktionierte, ging es für mich nicht so gut auf, dass Jon Kaare Koppe neben Bill, dem Mann Barbaras, dem er viele schöne leise Töne gab, auch noch den Sheriff spielte. Die beiden anderen Männer (Simon Brusis als Little Charles und Christoph Hohmann als Karens Verlobter) gehen komödiantisch in die Vollen, aber ihnen gesteht die Vorlage die wenigsten Differenzierungsmöglichkeiten zu. Das sind Juliane Götz als Jean, Andrea Thelemann als Mattie Fae und Franziska Melzer als Ivy vom Stück besser bedient und das nutzen sie auch geschickt aus. Allerdings wirkte Franziska Melzer auf mich für die Altersangabe im Stück ein bisschen zu jung. Die vielleicht schwierigste Aufgabe hat Elzemarieke de Vos als Haushälterin Johnna, muss sie doch als ruhender Pol und Engel durch das Stück gehen, als Persönlichkeit wirken, ohne groß etwas spielen zu können.
Das Bühnenbild Anke Grots mit wenigen Möbelstücken und der rotierenden Drehbühne, auf der immer verschiedene Bereiche des Hauses präsent waren, hat einerseits bewusst einen Theaterraum geschaffen, andererseits aber auch für eine dichte Atmosphäre gesorgt. Ich habe mich gefragt, warum das Stück nicht längst in Berlin gelaufen ist. Glückwunsch an Potsdam, dass es sich dieses Theaterpfund gesichert hat, mit dem es kräftig und - wie ich sehen konnte - generationsübergreifend wuchern kann.
Rainer Gerlach für radio-mensch